„Ich weiß, was das ist!“, rufen die Kinder. „Es ist die Brotzeit!“
Bloody Marys Augen driften in die Ferne und man sieht, sie überlegt. Dabei kneift sie das linke Auge zusammen und fixiert einen Punkt am Horizont. „Stimmt“, sagt sie. „Die Brotzeit ist eine sehr wichtige Zeit. Doch die schönste, die wirklich allerschönste Zeit eines Seefahrers ist die Flaute.
Viele von euch Jungspunden lesen viele Bücher über Piraten oder sehen viele seltsame Filme. Euch scheint, dass das Leben eines Piraten sich nur um blitzende Säbel, knallende Kanonen und gefährliche Kämpfe dreht, wo mindestens einer - meistens der Pirat - auf dem Schiff wie Tarzan von Tau und Mast zu Tau und Mast schwingt. Wenn nicht gerade gekämpft wird, wird ein Schiff gekapert, um das Geld zu erwerben, was man dazwischen für Rum und Weiber in irgendwelchen Spelunken ausgeben kann.“
Die Kinderaugen funkeln und Bloody Marys Augen funkeln auch. Wieder hat sie ein Auge zusammengekniffen und blickt auf einen uns unbekannten Punkt am Horizont.
„Walfänger“, „Seeungeheuer“, „Mannshohe Wellen“, „Stürme“, „Eisberge“... die Kinder raunen sich ihre Lieblingspiratenbilder zu.
Ein energisches Ziehen an ihrer Pfeife verrät Bloody Mary, dass die mal wieder ausgegangen war. Umständlich kramt sie also aus ihrer Manteltasche die Streichhölzer hervor, ratscht eines davon an der Palmenrinde an und stochert mit dem brennenden Hölzchen in ihrer Pfeife herum. Wie erwartet entern bald darauf weiße Wölkchen den Raum, formen seltsame und bizarre Gebilde und lösen sich wieder auf.
„So“, ruft die Bloody Mary. „Und jetzt einmal bitte die Bleistifte spitzen. Ihr macht das mit eurem Messer. Finger weg da! Finger müssen immer oberhalb des Messers sein! So ist es richtig. Und jetzt aufgepasst und mitgeschrieben, jetzt sagt euch Bloody Mary was Bloody Mary macht bei einer Flaute.
Die Flaute, meine Lieben, das ist das Schönste! Da hat man einmal so richtig Zeit pritschebreit in der Sonne zu liegen und seinen Teint zu pflegen. So eine braune Farbe sieht doch gleich viel gesünder aus viel viel besser als diese Mozarella Sticks aus dem Büro. Ich hatte mal einen Matrosen, der hat sich sogar ein Sixpack auf seinen Bierbauch gebräunt. Ja, im Ernst, der hat sich dafür extra eine Schablone aus Karton geschnitten und stundenlang auf den Bauch gelegt. - Während der Flaute ist auch Zeit für die Netze, die können geflickt werden, damit einem dann, wenn sie gebraucht werden, nicht wieder alles durch die Lappen geht. Während der Flaute können auch die Lackstiefel gepflegt werden, richtig glatt poliert werden, damit sie beim nächsten Kampf auch wirklich gut in das Hinterteil des Gegners flutschen. Die Fingernägel können zu effektiven Krallen nach gespitzt werden und die Eckzähne poliert, damit man sie gleich sieht, wenn ich die Lefzen hochziehe.“ Sie macht vor, was sie meint und die Kinder bekommen große Augen.
„Man kann auch mal schmutzige Wäsche waschen und in die Sonne zum Trocknen hängen, damit sie blendend weiß wird.“ Sie sticht mit ihrer Pfeife direkt in Richtung der Augen der Kinder.
„Die Flaute ist auch die Zeit um die Zunge zu schärfen, den stumpfen Rand, der durchs viele Kämpfen durch die Scharten eher einem Brotmesser ähnelt, statt einem japanischen Damastmesser, wieder schneidig zu schleifen, und danach eben wieder pritschebreit in der Sonne zu liegen. Man könnte auch die Taubennester, die sich in den Kanonen angesiedelt haben, vorsichtig rausheben und ganz hoch auf dem Mast anbringen. Selbstverständlich könnte auch der eine oder andere das Deck schrubben...“
„Boah, ist das öde, Deck schrubben...“
„Deck schrubben ist doch nicht öde! Weißt du denn, wie das geht? Also wir machen das ja so: wir binden uns zwei dicke Bürsten an die Füße, schütten einen Eimer mit Schmierseife auf Deck aus, nehmen Anlauf und – hui - lassen wir uns über das Dreck tragen. Das ist eine ziemlich lustige Angelegenheit, wo sich viele eine dicke Beule holen. Das macht aber nichts, denn wir haben einen riesigen Spaß und das Deck ist dann auch sauber.“
„Und wenn keine Sonne scheint?“
„Weiß ich nicht. Was machst du denn, wenn die Sonne nicht scheint?“
„Da kuschel ich mich in mein Bett und lese.“
„Na, dann mach das doch.“
„Kann ich auch kochen?“
„Na klar, kannst du bei der Flaute auch kochen. Das wäre zu sogar ziemlich gut, denn das, was der Smootje manchmal zusammen rührt, kann auf Dauer nicht gesund sein...“
„Kann ich auch auf den Ausguck klettern und rumschauen?“
„Du kannst auch auf den Ausguck klettern und rumschauen. Und dort wirst du nichts weiter sehen als den entspannenden und zutiefst beruhigenden Anblick der weiten offenen See. Dort oben wirst du auch nichts mehr weiter hören, als das Auf und Ab deines eigenen Atems. Wo sich dein Bauch hebt und senkt, zusammen mit den wiegenden Bewegungen, das die kleinen, sanften Wellen verursachen, dich hineinwiegen in nur dein Hier und Jetzt sein.
Das Plätschern der sanften Wellen, das an das alte Holz schlägt, wirst du nur unten hören. Manchmal hast du Glück und eine vorwitzige Welle hebt und senkt das ganze Schiff, dann hörst du vielleicht noch das Knarzen des Holzes. Über allem liegt der beißende Geruch des salzigen Wassers, der sich vermischt sich mit dem erdigen Duft von vertrocknendem Seetang.“
Unbemerkt ist die Alte herangekommen, ihr wisst schon, die die sonst immer hinten auf der Veranda sitzt. Wie selbstverständlich nimmt sie Bloody Mary die Pfeife aus der Hand und zieht. Lange hält sie den Rauch im Mund, bevor sie ihn in kleinen Ringen wieder auspustet. Durch die Ringe steckt sie ihren langen, dünnen, knorrigen Zeigefinger direkt auf Bloody Mary zu.
„Erzähl doch mal, Mary, was genau machst du, um dieses satte Gefühl im Unterleib zu bekommen? Du weißt schon, das Gefühl, das der Ursprung aller Gefühle ist?“
Bloody Mary grinst. Lässig schiebt sie mit zwei Fingern ihren Dreispitz nach oben und blickt der Alten mit zusammengekniffenen Augen, so dass nur noch der Schalk durchpasst, aufrecht in die Augen.
„Wieso wusste ich nur, dass du mich genau das fragen wirst?“
„Weil wir uns kennen, Bloody Mary, weil wir uns schon lange kennen.“
So etwas wie tiefe Liebe entspann sich im Raum zwischen den Augen.
„Ich habe da diese Galionsfigur. Ein Rentier-Drache mit ausladendem Geweih, der weit und drohend in die Zukunft weist. Dort habe ich mir einen Sattel hinein geschnitzt, schön breit, damit ich bequem darauf sitzen kann. Und genau da hole ich mir dieses erfüllende Gefühl von Stärke und „ICH BIN“ in den Unterleib. Über mir der unendliche Himmel, vor mir ausgebreitet die Zukunft und unter mir das Tiefe, das tief dunkelblaue Meer der Seele...“
Und du? Woher nimmst du dieses Gefühl im Unterleib, dieses Gefühl der Stärke, das Gefühl des ICH GENÜGE MIR SELBST, das Gefühl, dass ICH BIN?
„Aber dann, wenn eine Brise aufkommt und das Fähnchen sich wieder tollkühn auf eine Richtung einschießt und Lust hat den Arsch in die Luft zu halten, dann heißt es schnell sein! Behende den Mast hinaufklettern, Segel setzen, schnell die Taue lösen und satt fällt das leinerne schwere Tuch und bläht sich, schlägt sich den Bauch voll mit frischem Wind, voller Tatendrang - auf zu neuen Ufern.