"Was ist eigentlich ein Mentor?"
Puh, endlich war die Frage raus und die Schweißperlen, die so zwischen Tante Alexandras Nase und Oberlippe hingen, durften sich verdunsten.
Zwei Augenpaare blickten sie an. Das dritte war noch damit beschäftigt, auf den Lautstärkeregler des Hörgerätes zu glotzen. Wohlgemerkt sehr zusammengekniffen.
Dann legte Oma Holly die Zeitung weg und sagte fast wie beiläufig: "Na endlich. Ich dachte schon, du fragst nie."
Fein säuberlich strich sie die Falte des Papiers glatt. Oma Wally atmete hörbar aus.
"Weil du schon auch immer noch glaubst, dass du alles selber wissen musst. Von uns hast du das nicht. Wir können auch mal was nicht wissen und brainstormen dann zusammen."
Oma Wally nickte zustimmend. Und Oma Mary, deren Hörgerät jetzt wieder da saß, wo es hingehörte, fragte: "In welcher See ist denn dieser Storm?"
"Ein guter Mentor muss nicht alles wissen, weil er sich nicht mehr hinter seinem Wissen verstecken muss. Der weiß, dass er genau richtig ist, so wie er gerade da ist. Der kann auch gut gerne noch was im Miteinander lernen. Dadurch entsteht Augenhöhe, aber das weißt du doch."
Ja, Tante Alexandra wusste. Sie erinnerte sich gut an die Zeit, als der Druck von ihr als Lehrerin abgefallen war - in dem Moment, wo sie den Schülern sagen konnte, dass sie jetzt selber gerade keinen Plan hatte. Seltsamerweise hatte das alle, inklusive der faulsten Schüler, dazu angespornt, den Plan wiederzufinden. Seit diesem Zeitpunkt war alles viel entspannter gewesen…
"Ein Mentor ist einer, der da ist. Es hilft einem doch schon sehr, wenn man nicht so alleine ist mit seinem Problem. Der hat ja auch selber Ohren und Augen und sieht dann mal Dinge, die augenscheinlich so gar nix mit dem Problem zu tun haben. Ich war mal, als junges Mädchen, ganz unten und so voll in meinem Irrsinn gefangen, da hat mir eine gute Freundin, statt mir Lösungen, die eh gerade nicht gepasst hätten, anzubieten, die To-Do-Liste ihres Sohnes geschickt. Da standen so nette Sachen drauf wie 'Regal aufbauen' und 'Aperol schlürfen', das hat mich gleich wieder eingenordet."
"Ist klar. Das Aperol schlürfen war's."
"Nee, ich glaube es war dieses 1., 2., 3. Der Aperol war nur das i-Tüpfelchen." Dennoch war es noch immer stark genug um Oma Wally dazu zu bringen, sich einen aus dem Kühlschrank zu holen und dieses sie verändernde Ereignis wieder mal zu feiern. Ja, auch das Feiern und die Dankbarkeit gehört zu einem Mentor.
"Ich hatte mal was mit einem, ein wahnsinnig gut gebauter Seemann...". Oma Mary blickte verzückt in die Luft und irgendwie war klar, dass dabei nicht nur ihre Augen feucht wurden. "...der fuhr planlos über das Meer, bis er dann bei dieser Kirke hängenblieb. Der kannte auch einen Mentor. Jetzt stellt euch mal vor, der hätte einen Coach gehabt. Einen, der ihm gesagt hätte 'du, Otti, du hältst den Kompass aber falsch rum'. Da hätte der doch gar nicht so wahnsinnig viele tolle Abenteuer erlebt! Und so viel dabei erfahren. Über diese Abenteuer gibt's sogar ein Buch! Weltberühmt ist der jetzt."
"Und Mentor?" Tante Alexandra verstand nicht.
"Na, der hat ihn machen lassen. Hat ihm öfter mal das Baby gesittet und die Post reingeholt und so. Aber er hat ihn seinen Weg finden lassen. Sonst wäre der doch heute gar nicht der, der er heute ist."
Tante Alexandra lehnte sich zurück.
Ja. Zu allem konnte sie Ja sagen. Alles hatte sie schon erlebt. Eigentlich, so dachte sie, eigentlich weiß ich es ja schon. Und eigentlich, so dachte sie weiter, bin ich es ja schon.
Und, und das war der wichtigste Gedanke, es war gut solche Mentorinnen wie die Omas an ihrer Seite zu haben, die sie zu gegebener Zeit wieder daran erinnerten.